Über ihr Werk

Warum existieren wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Diese Fragen bewegen das menschliche Denken seit seinen Anfängen. Religionen und Wissenschaft haben aus unterschiedlichen Perspektiven versucht, Antworten zu geben. Neugier war vermutlich in beiden Fällen die treibende Kraft und der gemeinsame Ursprung ihrer Entstehung.
Als Künstlerin will Zero ebenfalls Antworten auf das Warum, das Woher und das Wohin geben. Zu ihren Inspirationsquellen gehört die buddhistische Idee der Wiedergeburt, der Verbundenheit alles Lebendigen – auch wenn sie mit dieser Religion nur aufgrund ihrer japanischen Herkunft vertraut ist, sie selbst aber keine Buddhistin ist. Außerdem ist Zero von Klein auf fasziniert von der Biologie, der Wissenschaft alles Lebendigen. Ihr Interesse gilt dabei speziell der Paläontologie, der Erforschung der Ur- und Frühformen des Lebens auf der Erde.

Es ist daher naheliegend, dass organische Formen an vielen Stellen in Zeros Werk eine Rolle spielen. So kam sie auf Würmer, eine Spezies, die es ihr besonders angetan hat. Würmer zählen zu den frühesten Lebensformen auf unserem Planeten, und durch sie können wir bis heute teilhaben an der Urgeschichte der Erde. Ihr genetischer Bauplan ist einfach, selbst unter schwierigsten Bedingungen können sie leben und überleben. Einige Arten wie etwa die Plattwürmer lassen sich vermehren, indem man sie teilt – die
Sage der Hydra oder ihr japanisches Pendant, die Sage der achtköpfigen Schlange, kommen in den Sinn. Trotzdem weichen wir instinktiv vor diesen Lebenskünstlern zurück, wenn wir einen ihrer Vertreter erblicken.
Vielleicht, weil sie uns zu sehr erinnern an die Endlichkeit unseres Lebens und daran, dass wir, die Großen, eines fernen Tages von ihnen, den Kleinen, verspeist werden. Bemerkenswert findet Zero ebenso die parasitären Würmer, die in der Lage sind, trotz ihres simplen Nervensystems
das Verhalten ihres Wirts nach eigenem Gusto zu steuern. Wer gerne einmal wissen möchte, wie es ist, solchermaßen fremdgesteuert zu sein, sollte sich nach Zero einmal an einen Tag erinnern, an dem man am Morgen mit dem linken Fuß aufgestanden ist und den ganzen Tag entsprechend missvergnügt
war.
Angesichts der Vielfältigkeit der Würmer hält Zero ihre Wurmformen bewusst offen. Auf diese Weise können
ihre Würmer auch zu Raupen, zu Trilobiten (Gliederfü.er) bis hin zu Drachen werden. Ganz im Sinne des Begriffs
Mus hi, der im Japanischen für sämtliches insektenartiges Getier von der Spinne bis zum Wurm steht.

Mensch und Natur
Seit der Steinzeit hat der Mensch einen riesigen Entwicklungsschritt getan, was sich
etwa darin ausdrückt, dass er heute außerhalb der natürlichen Nahrungskette steht. Wir können bestenfalls
noch erahnen, was es bedeutet, Nahrung zu sein und aufgefressen zu werden. Darum ist es für uns geradezu
naheliegend, Fressen und Gefressen werden als brutale Handlung zu sehen. Wer sich allerdings auf
einen Perspektivenwechsel einlässt, wird entdecken, dass Sterben und Tod auch Voraussetzung für Leben
sind: Die Löwin, die ein Zebra reißt, versorgt ihr Rudel mit Nahrung und sichert sein Überleben.

Mit ihrer Arbeit Icons will Zero aufzeigen, dass wir trotz aller zivilisatorischen Fortschritte den Kontakt zu
den Kreisläufen der Natur und dem durchaus heilsamen Aspekt von Fressen und Gefressen werden nicht
verloren haben. Inspiriert von Renaissancegemälden der stillenden Mutter Gottes, hält Zero in mariengleicher
Haltung fotografisch den Prozess fest, wie Blutegel ihr Blut saugen und nach vollendeter Mahlzeit von
ihrem Körper loslassen. Aber Zero gibt nicht ihre Milch wie Maria, sondern ihr Blut. Symbolisch gesprochen
ist die Gabe (oder Opferung) des eigenen Bluts ein Beweis der Liebe, ein Zeichen für die Einheit von
Mutter und Kind. Konkret will Zero deutlich machen, dass der Unterschied zwischen Blut und Milch nicht
so groß ist, wie der Farbkontrast von Rot und Weiß vorgibt. Weiß erscheint die Milch im Auge des Betrachters
nur, weil die in der Milch enthaltenen winzigen Fettkügelchen Licht entsprechend brechen. Außerdem
ist Blut einer der Ausgangsstoffe für die Milchdrüsen der weiblichen Brust, um daraus lebensspendende
Nahrung zu machen.

Bewegung und Leben
Dem Leben zugewandt, bedauerte Zero früher immer wieder, dass die von ihren
Händen geschaffenen Kreaturen nicht lebten. Oft fragten sie auch Interessierte, ob sie nicht ihre Geschöpfe
nicht wenigsten beweglich machen könnte, und einige Male erhielt sie sogar konkrete Vorschläge, wie sie
zu Werke gehen könnte. Der Einsatz von Motoren, Computern oder von bewegten Filmbildern kam für sie
allerdings nie in Frage, weil sie keine Spielzeugpuppen herstellen möchte, die programmierte Bewegungen
ausführen.
Einen Schritt in Richtung Bewegung als Zeichen des Lebens unternahm Zero mit der Werkreihe Aquarium
und brachte dazu auf Glasdächern und an Glasfassaden Wurmfiguren aus roter Folie an. Am Tag scheinen
die Figuren draußen zwischen Fenster und Himmel zu schwimmen, und der Lauf der Sonne lässt ihre
Schatten über Boden und Wände wandern, changierend von Rot bis Orange. Abends oder nachts, wenn
die Räume beleuchtet sind, tauchen die Silhouetten der Figuren aus der Dunkelheit auf und gleiten wie
fliegende Fische dahin. Betreten Personen den Aquarien-Raum, vermengen sich deren Schatten mit denen
der Wurmfiguren und werden eins miteinander.

Wissenschaft und Kunst zwischen Realität und Fantasie Das Wunder des Lebens festzuhalten
und zu dokumentieren, war schon das Ziel der frühen Biologen. Da die Fotografie allerdings erst sehr viel
später erfunden wurde, griffen die Forscher lange Zeit selbst zu Stift, Pinsel und Kupferdruck. Nicht immer
entsprachen die entstandenen Forschungszeichnungen dem exakten Abbild der Wirklichkeit, zumal nicht
wenige Darstellungen nach Augenzeugenberichten entstanden. Weitere Grenzen zwischen Wirklichkeit
und Fantasie lösten sich auf, wenn die Darstellungen kopiert wurden und andere Forscher sie um eigene
Vorstellungen erweiterten. So wurden Einhörner für die damals lebenden Menschen alsbald mindestens so
„real“ wie Giraffen mit kurzen Hälsen oder Elefanten mit Stummelbeinen. Albrecht Dürers Rhinozeros oder
die im 17. Jahrhundert von Matthäus Merian zusammengetragene Stiche-Sammlung mehr oder weniger
exotischer Tiere legen Zeugnis dieser wundersamen Verwandlungen ab.

Auf diese frühen Naturkundler spielt Zero mit ihren Radierungen aus den Reihen Androgynous und
Mermaids an. Darin erzählt sie von Körpern, in denen Frau und Mann eins sind, und von im Ozean lebenden
Frauen mit Fischschwänzen. Mögen uns solche Wesen fremd erscheinen – real sind androgyne
Lebewesen in der Natur bei manchen Schmetterlingsarten. Und schon bei den Alchemisten des Mittelalters
war Androgynität ein Zeichen materieller Verwandlung. Die Meerjungfrauen schlagen darüber hinaus
Brücken zwischen Ost und West, spiegeln sich doch in japanischen und altgriechischen Sagen ähnliche
Vorstellungen wider, selbst wenn sie sich im Detail unterscheiden.

In der Arbeit Tales fordert Zero Biologie und Anatomie heraus: Aus Ton oder Holz formt sie Wirbel und
verbindet sie zum Skelett eines Tieres mit zwei Schwänzen (Englisch: tails). In der Natur würde man solche
Wirbel-Tiere ohne Schädel nicht finden, zumindest hat da die Evolution sie bislang nicht vorgesehen. In
einem streng naturwissenschaftlichen Sinne sind Zeros Wirbel-Tiere also purer Unsinn, denn im Gegensatz
zu Biologie und Anatomie beweisen ihre Skelette eben gerade nicht hieb- und stichfest vergangenes
Leben. Sie wollen nur in künstlerischer Freiheit Erzählungen (Englisch: tales) mit märchenhaftem Charakter
sein, die auf Elemente der realen Welt zurückgreifen, soweit sie für die dargebotene Geschichte nötig sind.

Was bleibt?
Die Kunst. Sie ist für Zero das ideale Werkzeug, um bekannte Standpunkte in Frage zu stellen
und die Welt und das Leben immer wieder aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. So verwandelt
sie sich auch selbst immer wieder, indem sie etwa Kontinente, Perspektiven oder Materialien wechselt
oder sich, angeregt von Franz Kafka und Kobo Abe, den von ihr am meisten geschätzten Schriftstellern,
weiterentwickelt. Ob Ost oder West, Wurm oder Wirbeltier, Realität oder Fantasie, Wissenschaft oder
Kunst, Leben oder Tod – für Zero ist letztlich jede kreative Arbeit an einem neuen Werk eine Art Gebet.

Text: Thomas Steinhoff